Andrea Vetter
Menschen bewegen sich hierzulande von der Wiege bis zur Bahre in Anstalten: Krankenhaus, Kindergarten, Schule, Ausbildungsstätte, Arbeitsplatz, Seniorenheim, Friedhof. Für jede Anstalt gelten eigene Verordnungen und zusammen ergeben diese ein umfassendes Regularium, eine umfassende, die Gänze des Lebens reglementierende Anstaltslogik. Diese ist das Produkt einer bürgerlichen, marktwirtschaftlich versorgten Gesellschaft mehr oder weniger isoliert lebender Individuen oder Kleinfamilien. Eine andere Logik – nämlich die des Commonings, des Gemeinschaffens – wirkt in selbstverwalteten Zusammenhängen, in denen Menschen lebendige Visionen des Zusammenwirkens »jenseits von Markt und Staat« (Elinor Ostrom) in die Welt bringen.
Auch gemeinschaffende Projekte müssen sich in bestehende Rechts- und Verwaltungsstrukturen eingliedern, auch Commons müssen sich das Kleid dieser oder jener Rechtsform überziehen: müssen Steuererklärungen machen, Fördermittel abrechnen, sich mit dem Bauamt oder dem Vereinsregister auseinandersetzen. An diesen Punkten überlappen sich Felder, in denen unterschiedliche Logiken am Werk sind: Gemeinschaffende treffen auf die Ausführenden staatlicher Verwaltungsvorgaben, Anstaltslogik trifft auf Selbstorganisation. Dazu kommt, dass die meisten Gesetze und Bestimmungen für 1,99-Personen-Haushalte gemacht worden sind, nicht jedoch für 20- oder 30-köpfige Gemeinschaften, für Mitgliederläden oder selbstverwaltete Kindergärten.
In Gemeinschaften müssen soziale Schnittstellen »gebaut« werden, um die Logik des Gemeinschaffens mit der Behördenlogik kompatibel zu machen. Zum einen bestehen diese Schnittstellen aus konkreten Personen, die, meist an einem Schreibtisch sitzend, Anträge formulieren, Excel-Tabellen ausfüllen, Kostenabrechnungen kalkulieren, Überweisungsvorgänge buchen, aber auch die Ortsvorsteherin anrufen, zum Empfang des regionalen Wirtschaftsförderers gehen oder bei einem Videodreh für eine Crowdfunding-Kampagne auftreten. Zum anderen bestehen diese Schnittstellen aus juristischen Konstrukten, die bedient werden wollen: jährliche Mitgliederversammlung von Genossenschaften, Vereinsregistereintrag, Steuererklärung, Buchhaltung usw. Das Medium wird dabei von der staatlichen Verwaltung vorgegeben: » … ist in Schriftform einzureichen«.
Wie lässt sich dennoch damit ein lebendiger Umgang mit und an diesen Schnittstellen finden? Menschen, die an der Schnittstelle zur Bürokratie arbeiten, bedürfen des Schutzes und der Sorge, um nicht einzugehen oder verrückt zu werden. Sie brauchen Wasser, Pflege, Musik und Umarmungen. Schnittstellenhütende sind Wandlungswesen. Sobald es von ihnen verlangt wird, verwandeln sie sich in Papiertiger, die Paragrafen verstehen und akribisch genau Tabellen ausfüllen. Sie können große Visionen in ein kompaktes Tausend-Wörter-Format des Fördermittelantrags komprimieren und so übersetzen, dass mitunter selbst Verwaltungsangestellte anfangen zu träumen. In dem Moment, an dem die Schnittstellenhütenden das Büro verlassen, verwandeln sie sich bestenfalls wieder zurück in sinnlich erfahrende Menschen aus Fleisch und Blut. Diese Wandlungen sind jedoch höchst komplexe Zauber, die uns einiges an Wachsamkeit abverlangen. Am besten lernt gleich eine ganze Gemeinschaft oder Umgebung diesen Zauber und nimmt den Hütenden den papiernen Zaubermantel sachte ab, wenn sie einmal vergessen haben, ihn abzulegen.
Mehr dazu in der Zeitschrift Oya, Nr. 68 (»Schnittstellen hüten«)VERLINKEN: https://lesen.oya-online.de/texte/3730-schnittstellen-hueten.html